Tobias Huelswitt 1 Jan 2003

Sachte wird das Schaf gemolken

On Florian Thalhofers world

In 54 Episoden berichtet der dreißigjährige Medienkünstler Florian Thalhofer auf der CD-ROM welt von seinem Heimatort Schwandorf in der bayerischen Oberpfalz.

Enlarge

Sheep -

Diese Episoden heißen bei ihm SNUs. SNUs sind Smallest Narrative Units, kleinste erzählerische Einheiten. Sie beinhalten ein Foto, unterlegte Musik und eine vorgelesene Episode, die auf Wunsch auch auf einem Spitzendeckchen geschrieben am Bildschirmrand erscheint. Per Mausklick entscheidet der Leser, wo es weitergeht.

Die welt dauert etwa 60 Minuten.

Beim Anschauen wird man in einen Zustand angenehmer Langeweile (B = Boredom) versetzt und dann doch auf ganz unspektakuläre Art vorzüglich unterhalten. Obwohl es weder Hauptfigur noch Handlung gibt, entsteht Spannung dadurch, dass man mit jeder Entscheidung für einen Link alle anderen auf später verschiebt.

welt, Florian Thalhofer 1997, Mediamatic 1999, Spex 2001

welt online, download und bestellen (CD-ROM 10,- Euro): www.kleinewelt.com

Als Bindemittel der Erzählung wirkt hauptsächlich das immer wiederkehrende Thema Bier. Genauer gesagt das wichtigste Bier auf der Welt: das Naabecker Bier. Vom Bier führt die CD zum verstorbenen Hund der Familie, zum Stammtisch im Wirtshaus Graf oder zum Poison Idea – Konzert in einem Landclub. Vom Poison Idea – Konzert zum Musikhören auf der Autobahnbrücke, zur Party am Baggersee oder zum O-Ton eines Dichters, der sein neuestes Gedicht vorliest: Sachte wird das Schaf gemolken / in der Stubn sitzen Leute / schaun gemeinsam auf die Wolken / wissen nicht, was sie bedeuten. Und von dort geht’s zur Ortsdemo gegen Fremdenhass, an der der Bürgermeister nicht teilnimmt, und zum Gastwirt, der sich bei der Polizei mit Freibier Liebkind macht.

Bei aller Harmlosigkeit scheint das Bedrückende doch allenthalben durch. Etwa wenn der Kampf der Gemeinde gegen eine nahe Wiederaufbereitungsanlage oder die überdimensionale Polizeipräsenz am Ort wie nebenbei erwähnt werden. Und manche der Links, in deren Vorschau 40-jährige Paare unter Sonnenschirmen, mit Trinkröhrchen-Kaltgetränken und Blick auf den Marktplatz zu sehen sind, möchte man lieber so lange wie möglich unangeklickt lassen. Wenn man den Link schließlich doch wählt, sagt die Erzählerstimme prompt: Das Glockenspiel auf dem unteren Marktplatz spielt alle halbe Stunde die Bayernhymne. Herzlich willkommen im Kleinstadtalbtraum.
Gleichzeitig ist die CD-ROM aber auch erbaulich. Da gibt es Musik von Fugazi und Belle&Sebastian zu hören, und ab und zu auch mal einen richtigen Witz: Der Schwandorfer Kirchturm hat auf der einen Seite zwei Uhren, dass vom Marktplatz her zwei Leute gleichzeitig auf die Uhr schauen können, so hat man es mir erklärt. In der Regel verbirgt sich der Humor aber in liebenswerten Abschweifungen, so dass man meinen könnte, Holden Caulfield persönlich, der Held aus J. D. Salingers Der Fänger im Roggen, verberge sich hinter dem Erzähler dieser CD.

welt ist eine interaktive nonlineare Erzählung. Sie ist Ausgangspunkt des in ihrer Folge von Thalhofer erfundenen Programms mit dem Namen Korsakow-System, das man als technischen Meilenstein in der Geschichte der narrativen CD-ROM bezeichnen könnte. Thalhofer versieht die Episoden seiner aktuellen Projekte – syndrom, eine subjektive Dokumentation über Alkohol, und story project, eine interkulturelle Dokumentation über Liebeskonzeptionen der jüngeren Generation – mit mehreren Schlagwörtern.

Anhand dieser Schlagwörter verlinkt das Korsakow-System die SNUs selbständig und lässt jederzeit das Hinzufügen oder Herausnehmen von Einheiten zu, ohne dass jedesmal das gesamte Link-Gefüge auseinander gerissen werden muss.

Narrative CD-ROMs gibt es zwar schon lange, nicht aber dieses System. Nachdem Thalhofer es vor zwei Jahren erfunden hatte, erkannten Willem Velthoven, Professor für Experimentelle Mediengestaltung an der UdK in Berlin, und sein Kollege Heinz Emigholz das Potential des Systems. Seitdem entwickeln sie es gemeinsam mit Thalhofer weiter und lehren es in einer Klasse für Interaktive Narration. Zusätzlich gründete Velthoven im Februar 2003 in Amsterdam die Korsakow Stiftung, die das System in Workshops Filmemachern und Regisseuren vermittelt.

Auf der Website www.korsakow.com , auf der Thalhofer Entstehung und Funktionsweise des syndroms dokumentiert, findet sich auch die Mitschrift einer Vorlesung, die Heinz Emigholz im Zusammenhang mit dem Seminar Interaktive Narration an der UdK gehalten hat.

++++++
Der Vortrag von Heinz Emigholz ist veroffentlicht in: Heinz Emigholz, Das Schwarze Schamquadrat, Verlag Martin Schmitz, Berlin 2002.

Darin entwickelt er eine Terminologie, mit der sich die Funktionsweise des Korsakow-Systems genau beschreiben lässt: ''Interaktive Narration (IN) ist eine technisch unterstützte, durch aktuelle Entscheidungen des Users beeinflußte, jeweils neue lineare Aufbereitung von Raum-Zeit-Partikeln.
Diese Raum-Zeit-Partikel nennen wir kleinste erzählerische Einheiten (…) Diese kleinste erzählerische Einheit (SNU) der IN ist gekennzeichnet durch eine lineare Intaktheit, die nur durch Abbruch unterbrochen werden kann. Die SNU offeriert während ihres linearen Ablaufs an beliebig vielen festgelegten Stellen beliebig viele Kontaktpunkte (POC = Point of Contact, Possibility), an der Schlüsselwörter (KEYs) andocken können.''

Zwei Dinge fallen auf: Erstens beinhaltet das nonlineare Erzählen lineare Elemente. Es scheint, als könnte das Lineare lediglich auf immer kleinere Erzähleinheiten begrenzt, aber selten ganz aufgehoben werden. Zweitens ist die vielbeschworene Freiheit, die dem User/Leser beim Konsumieren interaktiver Narrationen zukommt, gar nicht in dem Maße gegeben wie erwartet: die Anzahl der POCs ist zwar größer als in den traditionellen Medien Buch und Film, aber sie ist, genau wie die Lage der POCs, festgelegt, und zwar vom Autor.

Zur Linearität in der Nonlinearität bemerkt Emigholz: Wenn Pd Möglichkeit für die kurze Zeitspanne des Ablaufs der SNU die SOP of Possibilities und ihre Non-Linearität außer Kraft setzt, stellt sich die Frage, ob wiederum in einer SNU die traditionellen Gesetze der Narration uneingeschränkt vorherrschen sollten. Unsere Arbeitsergebnisse weisen darauf hin, daß diese Gesetze umgeschrieben, angeglichen und im gewissen Sinne auch für die SNU neu erfunden werden müssen. Die technische Aufbereitung und Inszenierung der SNU muß im Hinblick auf IN Narration erfolgen, das heißt, sie darf nur bedingt strikt lineare, unumkehrbare Prozesse beinhalten. Anscheinend muss jede SNU einen idealen Grad von Mehrdeutigkeit und möglicher Gleichzeitigkeit enthalten. Zugleich beinhaltet lineare Narration, sei es in Film oder Buch, schon immer in schwankendem Maße nonlineare Elemente. Rückblenden, Abschweifungen, Erinnerung und freie Assoziation als Erzählstrukturen, die die Zeitverläufe unendlich dehnen oder umkehren, sind solche Mittel. Der Bruch mit für bestimmte erzählerische Formen verbindlichen dramatischen Strukturen ist ein weiteres. Lyrik kann ein hervorragendes Medium nonlinearer Narration sein. Und Reiseerzählungen können, obschon sie zunächst die Linearität par excellence darzustellen scheinen, in hohem Maße nonlinear funktionieren: geben sie doch zumindest dem Autor die größte Freiheit, die Reihung der Geschehnisse beliebig vorzunehmen. Dass es weitergeht, dafür sorgt die Reise. Die Handlung braucht dazu nichts mehr zu tun.

Was genau, stellt sich die Frage, ist Linearität? Die Festlegung der Szenenabfolge allein kann es nicht sein, denn ein David Lynch-Film hebt, auch wenn seine Szenenfolge wie in jedem Film festgelegt ist, unserem Gefühl nach die Linearität auf. Das heißt, Linearität ist immer dort gegeben, wo eine Handlung auftaucht, deren Verlauf durch eine zeitliche und dramatische Folgerichtigkeit gestützt wird. Linearität ist eine variable Größe, die mit der Präsenz der Handlung, der zeitlichen und der dramatischen Folgerichtigkeit größer und kleiner wird. Wo die zeitliche oder die dramatische Folgerichtigkeit nicht mehr gewährleistet ist oder wo keine Handlung vorkommt oder alle drei Faktoren wegfallen, die SNUs sich aber dennoch in einem narrativen – zum Beispiel thematischen – Zusammenhang befinden, entsteht Nonlinearität, ebenfalls als variable Größe. Bei Thalhofer kommt Handlung nur noch atomisiert in den SNUs vor. Buch-Autoren können sich selbst durch das Dehnen der Zeit und die Zurücknahme der Handlung unendlichen Platz für Reflexionen schaffen. Durch eine auf die Spitze getriebene Zurücknahme der Handlung in welt schafft Thalhofer denselben Freiraum – nutzt ihn jedoch nicht selber, sondern lässt ihn unausgefüllt und bietet ihn so dem Leser/User zur freien Verfügung an.

Den auf der Basis des Korsakow-Systems erzählten Geschichten fällt es schlicht aus technischen Gründen leichter, stets alternative Szenenabfolgen anzubieten und dadurch die dramatische und zeitliche Folgerichtigkeit aufzuheben. Der Film muss sich irgendwann auf einen Weg festlegen, die Szenenfolge zementieren. Dass dies nie der absolute, einzig mögliche Weg ist, zeigt allein die Existenz von etwas wie einem //Director’s Cut:// So hätte die Schnittfolge genauso gut – oder noch besser – aussehen können.

Natürlich ist die Abfolge der SNUs auch in der welt oder dem syndrom nicht völlig beliebig. Durch die Platzierung der POCs entscheidet der Autor, welche Angebote der User/Leser bekommt. Was diesem auf den ersten Blick wie unendliche Freiheit durch Interaktion scheinen mag, ist nur eine leichte Erweiterung seiner Möglichkeiten. Außerdem, weiß Heinz Emigholz, gibt es auch in klassischen Rezeptionssituationen wie dem Lesen schon immer interaktive Elemente, da der Leser den Inhalt des Buches interpretiert: Jede lineare Narration birgt im Kern eine kommunikative Interaktion. Und viele Formen der Interaktiven Narration sind Rudimente einer linearen Kommunikation.
Sicher wird das Medium, an dem Thalhofer, Velthoven und Emigholz arbeiten, für das es noch keinen Namen gibt und das mit CD-ROM ungenügend und unsexy beschrieben ist, sich in dem Moment voll entfalten, in dem es seine Sprache nicht mehr bloß in einer Mixtur von Elementen aus den Sprachen der tradierten Medien sucht und sich mit ihnen vergleicht, sondern sich in einem produktiven Selbstbewusstsein ganz auf seine eigenen Möglichkeiten konzentriert.

Die Erzählprinzipien der welt haben mit denen des erwähnten Fänger im Roggen einiges gemein. Dort wird die Linearität der Erzählung ständig von Holdens Hang zur Abschweifung ausgehebelt. Die Linearitäts-Verweigerung der Figur und ihr außergewöhnliches Denken bedingen einander. Wie uns erzählt wird, könnte man sagen, so denken wir auch. Gewöhnliches Denken ist lineares Denken, geprägt von linearem Erzählen mit all seinen ideellen Implikationen: der Vorstellung, dass die Zeit abläuft wie ein großes Ultimatum, dass tausend Ziele zu erreichen und dass Probleme zu lösen sind. Zum Beispiel militärisch. Nichts ist linearer als ein Truppenaufmarsch, und nichts ähnelt einem Truppenaufmarsch mehr als die Einberufung der Figuren zum Erfüllen ihrer Missionen in den Hollywoodfilmen.

Das nonlineare Erzählen dagegen irritiert und bremst unser Denken. Es lenkt die Zeit in Schleifen, in denen wir plötzlich auf geistige Weiten und Freiheiten stoßen. Es hebt Kausalität und Logik auf und vermittelt uns eine Ahnung, dass die Welt womöglich anders funktioniert, als man sie uns immer wieder erzählt.

Wenn es nun wahr ist, dass das nonlineare Erzählen soviel Erleichterung bringt, warum wird dann seit jeher linear erzählt? Vermutlich aus evolutionären Gründen: Eine stringente, 'fesselnde' Geschichte kann sich besser gegen die unzähligen konkurrierenden Sinnesattraktionen der Umwelt durchsetzen – und gegen andere Geschichten, die vielleicht schlauer, aber langweiliger sind. B = Boredom ist für Emigholz die politische Komponente des Erzählens: Langeweile ist (…) ein Begriff, der einem polit-ökonomischen Bewertungssystem entspringt. Wie verhält sich also B zu den politischen Polen Demokratie und Diktatur? Jetzt sind wir an dem Punkt, nämlich der Sphäre des Gesellschaftlichen, an dem traditionelle Narration schon immer angesetzt hat. Sie hat das System ihrer Verkürzungen und linearen Behauptungen traditionell damit verteidigt, daß sie es mit einer jeweiligen politischen Wirklichkeit zu tun hat, in der sie sich – als überschüssige kulturelle Kraft – verteidigen muß, um weiterhin neue Inhalte setzen zu können. Will ein Erzählmedium, so Emigholz weiter, in unserem polit-ökonomischen Bewertungssystem Autorität gewinnen – in seinen jeweiligen Aussagen und auf dem Markt des zu Erzählenden überhaupt –, muß es sich gegebenenfalls auch gegenüber einer feindlichen Umwelt durchsetzen.


Man kann davon ausgehen, dass sich diese strukturell kämpferische Grundstimmung einer ‘spannend’ und ‘fesselnd’ erzählten Geschichte auf den Leser überträgt. Und ist es nicht bemerkenswert, dass die Kunst des Ordnung stiftenden Spannungsbogenbaus in einem Land vervollkommnet wurde, dessen Kultur, wenn wir Michael Moores Diagnose in Bowling for Columbine glauben, zu einem guten Teil in Angst und dem Glauben gründet, sich immer und überall gegen eine chaotisch-wilde und feindliche Umwelt durchsetzen zu müssen?
Wenn es das Ideal jeden Erzählens ist, das Universum des Lebens, das sich (…) in den Inhalten und Funktionen unseres Denkens und Handelns – also in unserem Geist und in unserem Körper – spiegelt, angemessen wiederzugeben, wie Emigholz sagt, und wenn es wahr ist, dass das lineare Erzählen mit seinen 'linearen Behauptungen' die Welt nicht korrekt widerspiegelt, wo hat es diese Strukturen dann her? Frei erfunden?
Zum Teil hat das lineare Erzählen sich das Lineare durchaus von der Welt abgeschaut. Man darf annehmen, dass sie lineare Elemente enthält. Ohne Frage weist die Wirklichkeit bestimmte Strukturen auf. Es wäre allerdings ein großer Zufall, wenn sie identisch mit denen wären, die wir uns für sie ausgedacht haben. Und selbst, wenn wir sie uns nicht ausgedacht, sondern beobachtet haben – haben wir dann auch alles bemerkt? Wir können davon ausgehen, dass der Zeitpfeil in der Wirklichkeit eine Rolle spielt. Aber sicher nicht die alles bestimmende, die wir ihm zugeordnet haben. Das Leben ist größer als unsere Formen, es zu erzählen.


Damit wird das Geschichtenerzählen zu einer spirituellen Angelegenheit. Indem wir uns entscheiden, wie wir erzählen und erzählt bekommen möchten, entscheiden wir auch, wieviel Wahrheit, das Leben und die Welt und unser Wissen über sie betreffend, wir uns zumuten wollen. Je dramaturgisch zwingender der Handlungsverlauf, desto lebensferner könnte eine Geschichte sein. Je kleiner die SNUs, je dezenter die übergreifenden Strukturen, je größer die Abschweifung, desto wahrer ist sie womöglich, und desto mehr Mut erfordert es, sie sich erzählen zu lassen und sich ihrer schwachen Ordnung anzuvertrauen.

Es wäre Unsinn zu behaupten, es erfordere Mut, ein Gedicht zu lesen oder sich durch die welt zu klicken. Aber gesagt werden kann, dass sich die Rezeptionssituation stark von der des Lesens oder Anschauens einer beliebigen geplotteten Geschichte unterscheidet: Durch die viele Zeit, die uns plötzlich zur Verfügung steht – und vor der wir zunächst erschrecken – und die Aufforderung, die Zusammenhänge zwischen den SNUs und zwischen den SNUs und uns selber durch Weiterklicken und einen komplexen Interpretationsvorgang aktiv herzustellen, passiert in uns wesentlich mehr als gewöhnlich, wenn wir uns unterhalten, also führen lassen und einfach nur folgen. Man könnte sagen, das Betrachten der welt fühlt sich an, als ob man ein gutes Buch zum zweiten Mal und diesmal ganz langsam liest, vielleicht auch nur eine Stunde darin blättert. Und immer lädt uns die welt ein, noch langsamer zu werden, noch mehr Zeit zu verschwenden, zum Beispiel in der Kneipe vom Graf Sepp in Schwandorf: Loss uns a Bier trinken gehn, host Zeit?

Der Text ist erschienen in: Literaturzeitschrift EDIT, Nr. 31, Leipzig, April 2003.