Anna Lina Litz

War Hildegard von Bingen autistisch?

Eine Zusammenfassung des Artikels “Ruminations on Hildegard of Bingen (1098-1179) and Autism“ von Patricia Ranft

Hildegard von Bingen war eine deutsche Nonne, die im 12. Jahrhundert lebte, und eine der einflussreichsten Frauen ihrer Zeit. Sie schrieb mehrere wissenschaftliche Abhandlungen, komponierte Musik, und erfand eine eigene Sprache. Ihre Arbeit fasziniert Menschen bis heute. 

In ihrem Artikel “Ruminations on Hildegard of Bingen and Autism“ (frei übersetzt: “Grübeleien über Hildegard von Bingen und Autismus“) aus dem Jahr 2014 erklärt Patricia Ranft, dass historische Texte und Krankenunterlagen darauf hinweisen, dass Hildegard bestimmte Eigenschaften und Verhaltensweisen aufwies, die häufig bei autistischen Menschen vorkommen. Sie argumentiert außerdem, dass der klösterliche Lebensstil für eine möglicherweise autistische Person wie Hildegard sehr gut geeignet war. 

Im Folgenden fasse ich Ranfts Argumente für diese zwei Behauptungen zusammen. Alle Textzitate sind von mir frei übersetzt, die Originalzitate sind in der englischen Version des Artikels zu finden. 

Später im Jahr planen wir, das Praktizieren von retrospektiven Diagnosenstellungen, wie auch die “armchair diagnosis“, die sogenannte Diagnose vom Sessel aus, kritisch zu beleuchten. Wir sind uns bewusst, dass dies eine problematische Praxis ist. Für den Moment ist es für uns lediglich eine Möglichkeit, um Vorbildfiguren durch die Geschichte hinweg zu identifizieren. Mehr zu dem Thema später auf diesem Blog… 

Enlarge

Depiction of Hildegard of Bingen - Illumination from the Liber Scivias showing Hildegard receiving a vision and dictating to her scribe and secretary

Ein seltsames Kind 

Ranft präsentiert verschiedene historische Texte, die Hildegard’s Kindheit beschreiben, und stellt Zusammenhänge zu Eigenschaften her, die häufig bei autistischen Kindern auftauchen. Zu diesen Eigenschaften gehören 'Beeinträchtigungen der verbalen und nonverbalen Kommunikation', sowie 'Verzögerungen in sozialer Kommunikation vor dem dritten Lebensjahr', und 'begrenzte oder repetitive Interessen und Verhaltensweisen'. 

Hildegard, die das zehnte Kind ihrer Eltern war, wurde von diesen als Zehent ausgewählt - der zehnte Teil des Einkommens oder Besitzes, welcher üblicherweise an die Kirche gespendet wurde. 

Ranft stellt die Hypothese auf, dass 'Hildegard’s Eltern nicht diejenigen waren, die ihr ihre soziale Isolation auferlegten'. Stattdessen könnte es ihr eigener Character gewesen sein, der sie von anderen absonderte. Ranft zitiert Guibert von Gembloux [1124/25-1213], welcher schrieb, dass die junge Hildegard 'in Wahrheit vollkommen abgesondert war, da sie sich seit ihrer Kindheit fremd von allen Sorgen und allen Kindern der Welt gemacht hatte'. Er erwähnte auch, dass sie 'vor Beschämung schrumpfte und nur langsam gehorchte', eine Eigenschaft, die sie bis ins mittlere Alter beibehielt.

Hildegard selbst berichtete in ihren Texten von einer 'Schwäche', welche sie fast ihr gesamtes Lebens hindurch fühlte: 'eine wiederkehrende Krankheit, an der ich seit der Muttermilch bis jetzt noch leide, und die mein Fleisch verschleißt und meine Kraft auslaugt'. 

Ranft fasst zusammen: 'Hildegardische Quellen beschreiben ein Kind geplagt von einer undefinierten 'Schwäche', sozialer Isolation und Defiziten in expressiver mündlicher Kommunikation', sowie 'Schwierigkeiten, Bedürfnisse zu kommunizieren, extremem Kummer über fehlgeschlagene Versuche, Beziehungen aufzubauen, und ein Sichzurückziehen angesichts ihres Scheiterns.'

Erwachsenenalter: Hildegard entfaltet ihr Potential 

Ranft’s Quellen zufolge verschwanden Hildegards Probleme nicht, sobald sie das Erwachsenenalter erreichte. Sie war noch immer bekannt für 'ihre Stille und Wortkargheit' und berichtete von einer 'Furcht vor Menschen zu dieser Zeit' in ihren eigenen Texten, welche sie an eine Schreiberin diktierte, da sie selbst Schwierigkeiten mit dem Schreibenlernen hatte. 'Zusammen entwickelten sie eine Strategie, um Hildegards Kommunikationsbarriere zu durchbrechen, indem sie die geschriebene Kommunikation über die gesprochene hervorhoben', schreibt Ranft. Weiterhin schien Hildegard Episoden zwanghaften Verhaltens zu haben, während welcher sie 'den himmlischen Befehl empfing, ihre Bleibe zu verändern…Manchmal stieg sie auf einmal aus dem Bett und lief entlang aller Ecken ihrer Zelle, währenddessen nicht in der Lage zu sprechen.'

Diese Schwierigkeiten hielten Hildegard jedoch nicht davon ab, ihre Interessen zu verfolgen, und sowohl innerhalb ihrer Klostergemeinschaft als auch außerhalb Macht und Einfluss anzusammeln. Ranft schreibt, dass Hildegard nach dem Tod ihrer Lehrerin Jutta von Sponheim 'mit einstimmiger Zustimmung ihrer Schwestern' als neue Leiterin gewählt wurde, 'um Aufsicht und Disziplin über sie auszuüben, da sie sich versichert fühlten in [Hildegards] Urteilsvermögen und ihrer Selbstdisziplin.'

Hildegard besaß ein angeborenes musikalisches Talent, das Ranft zufolge 'konsistent [ist] mit den Inselbegabungen, die ca. 10% der autistischen Bevölkerung besitzt (im Vergleich zu 1% der allgemeinen Bevölkerung).' Weiterhin verfasste sie die die zwei streng strukturierten Abhandlungen Physica und Causa et Curae. 

Enlarge

Illustration from 'liber divinorum operum' - Image by Nathaniel M. Campbell , found on his blog .  Hildegard von Bingen

Ranft schreibt über autistische Personen: 'Ihre Zielstrebigkeit und Bereitschaft, äußere Interessen aufzugeben sind häufig die Formel zu ihrem Erfolg, insbesondere in der Wissenschaft, Kunst, und Musik.' Diese Beschreibung scheint perfekt auf das Bild zu passen, welches Ranft von Hildegard zeichnet. 

Ein weiterer relevanter Punkt, den Ranft erwähnt, ist Hildegards dokumentierte 'enge Verbindung mit den mental - und/oder sozial Behinderten.' Es gibt mehrere von Zeugen verfasste Texte, die beschrieben, wie Hildegard psychisch kranke Frauen in ihr Kloster aufnahm und wie einige von ihnen sich in dieser Zeit wieder erholten. Ranft beschreibt dies als ein 'fortgeschrittenes Verständnis   solcher Behinderungen als ungleich zur Besessenheit durch Dämonen (die damals gängige Erklärung)'. Es liegt nahe zu spekulieren, dass dieses fortgeschrittene Verständnis durch ihre eigene Erfahrung mit Neurodiversität zustande kam.

Eine lebhaft visuelle Denkerin  

Eine der Besonderheiten, die Hildegard zu ihrer Lebzeit und darüber hinaus zu Berühmtheit verhalfen, waren ihre Visionen. 

Sie beschrieb eine ihrer Visionen wie folgt: 

'In dieser Vision verstand ich ohne jegliche menschliche Anweisung die Schriften der Propheten, der Gospel, und anderer Heiliger und bestimmter Philosophen, und ich erläuterte eine Anzahl ihrer Texte, obwohl ich kaum Verstand hatte von Literatur, da die Frau, die mich lehrte, selbst keine Gelehrte war. Dann komponierte ich auch und sang Kirchengesang mit Melodie, um Gott und seine Heiligen lobzupreisen, ohne dass mich irgendjemand lehrte, da ich niemals Neumen [eine Art von Gesang] oder überhaupt irgendwelchen Gesang studiert habe.'

Hildegard war davon überzeugt, dass was sie in ihren Visionen lernte visuelles und nicht mystisches Wissen war: 'Ich litt in meinen Visionen nie unter dem Defekt der Ekstase. Und vollkommen wach sehe ich sie weiterhin Tag und Nacht.' Ranft schreibt: 'Hildegards Abhängigkeit von visuellem Lernen ist beinahe vollkommen: 'Ich have kein Wissen über Dinge, die ich nicht sehen kann, denn ich bin ungelehrt.' Und weiter: 'Hildegard glaubte, dass ihre visio 'auf mysteriöse Weise verbunden war mit ihrem wiederkehrenden körperlichen Leiden.''

Enlarge

Depiction of Hildegard of Bingen visions - Hildegard von Bingen

Ranft vermutet, dass Hildegards visio tatsächlich den 'ungewöhnlichen sensorischen Erfahrungen vieler [autistischer] Personen' entsprechen könnte. 

Hildegards Schriften erwähnen außerdem ihr exzellentes Erinnerungsvermögen: 'Was auch immer ich in dieser Vision sehe oder lerne bewahre ich für eine lange Zeit, und verstaue es in meinem Gedächtnis. Und mein Sehen, Hören, und Wissen ist zeitgleich, sodass ich zur selben Zeit lerne und weiß'. Ranft fügt hinzu, dass 'ein äußerst aufnahmefähiges Gedächtnis eine weitere häufig vorkommende Eigenschaft von [autistischen] Personen ist'. 

Ranft stellt außerdem die These auf, dass Hildegard hyperlexisch war: 'Typischerweise lernt eine hyperlexische Person visuell, hat bedeutende Schwierigkeiten mit verbaler Sprache und hat ein frühreifes Lesevermögen. Dies beschreibt Hildegard.' Hyperlexie ist auch eine Eigenschaft, die oft bei autistischen Kindern vorkommt. 

Zusammenfassend schreibt Ranft, dass Hildegard einen 'äußerst phantasiereichen, visuell orientierten Intellekt' besaß, welcher Strukturen und Ereignisse 'auf eine vollkommen einzigartige und kreative Weise' abbildete. Es ist möglich, dass sie hierin so erfolgreich war, da 'ein objektives Herangehen und visuelle Beteiligung an kognitiven Prozessen für sie wie für viele autistische Personen natürlich war'. 

Das klösterliche Leben - ein ideales Umfeld? 

Im zweiten Teil des Artikels erklärt Ranft, weshalb sie glaubt, dass falls Hildegard wirklich autistisch war, ihre Eltern genau die richtige Entscheidung getroffen haben, indem sie sie ins Kloster unter der Aufsicht von Jutta von Sponheim schickten. Sie schreibt, dass Jutta eine 'exzellente Lehrerin [war], die sich mit auch mit Angelegenheiten befasste, die über das Spirituelle hinausgingen; sie besaß 'Weisheit sowohl in spirituellen Angelegenheiten als auch in verschiedenen anderen Situationen', darunter auch die Fähigkeit, sich auf die individuelle Persönlichkeit jeder ihrer Schülerinnen einstellen zu können. 

Im Folgenden zählt Ranft Eigenschaften des klösterlichen Lebens auf, die auch für autistische Personen vorteilhaft gewesen sein könnten: 

'Es is streng strukturiert, individualisiert mit niedrigem Lehrer/Schüler Verhältnis, fordert hierarchische Beziehungen und intensive Mitarbeit, bietet systematischen Unterricht und fördert Familien- oder Gemeinschaftsbeteiligung.' Weiterhin 'halfen die geplanten Stilleperioden, um übermäßigen Druck während des Lernens effektiver Kommunikationsfähigkeiten zu beheben; das Singen könnte eine ideale Situation für Gestalt-Techniken des Sprechenlernens geboten haben.'

Und schließlich gehörte zum klösterlichen Alltag auch eine 'tägliche Kapitelversammlung, während  welcher die Ordensgemeinschaft zusammenkam, um die Angelegenheiten des Tages zu besprechen; dies war auch eine Möglichkeit für die Frauen, sich über ihre Misserfolge, Probleme und Einschränkungen auszutauschen und Feedback von der Gruppe zu bekommen', nicht ungleich einer täglichen Therapiestunde. 

Enlarge

St. Hildegard Abbey - monastery founded by Hildegard von Bingen Photo by Matthias Zepper , found on Wikimedia . 

Schlussfolgerungen

Patricia Ranft fasst ihre Argumente wie folgt zusammen: 'Hildegard demonstrierte einige sehr bestimmte Auffälligkeiten während ihrer Kindheit. Die Quellen berichten, dass ihre Eltern lange und gründlich nach einer Schule und einer Lehrerin für sie suchten, die ihren Bedürfnissen entsprach. Sie informieren uns weiter, dass Hildegard, nach Jahren des strukturierten Lebens unter genauer Aufsicht, eine hochfunktionelle Erwachsene war, und im Stande, eine Führungsposition innerhalb einer Gruppe ähnlicher Personen einzunehmen.'

Sie zieht weiter den Schluss, dass 'das mittelalterliche Klosterleben, ohne sich dessen bewusst zu sein, bestens geeignet war um die Nebenfunktion zu erfüllen, ein Spektrum von Verhaltensphänotypen in sein Leben zu integrieren.'

Über “Grübeleien“ und Hinweise zu diesem Artikel 

Der Titel des Artikels, 'Ruminations on Hildegard of Bingen and Autism', ist natürlich sorgsam ausgewählt. 'Ruminations', welche ich übersetze als 'Grübeleien', sind keine Hypothesen oder Wahrheitsansprüche - sie sind stattdessen einfach wandernde Gedanken. 

Obwohl die Autorin ihre Argumente auf strukturierte Weise präsentiert, erkennt sie auch, dass es nicht möglich ist, definitive Aussagen über den Neurotyp einer Person zu treffen, die vor eintausend Jahren gelebt hat - kompliziert wie es ist, eine solche Aussage selbst über eine heute lebende Person zu treffen. 

Was dieser Artikel versucht, ist demzufolge nicht, Hildegard von Bingen als autistisch zu retro-diagnostizieren. Stattdessen präsentiert er eine Sammlung von Textquellen, die die Möglichkeit einer autistischen Hildegard sichtbar machen. 

Ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass dieser Artikel bereits 2014 veröffentlicht wurde, und teilweise veraltete Terminologie rund um Autismus beinhaltet. Zum Beispiel verweist die Autorin auf das DSM-4 Handbuch anstelle des aktuelleren DSM-5 Handbuches zur Diagnose von psychischen Störungen und Neurodiversität, und vergleicht die Klosterumgebung mit 'Behandlungsprogrammen' für autistische Kinder, während wir heute wissen, dass Autismus keine Krankheit ist, die behandelt und kuriert werden sollte, um an neurotisches Verhalten anzugleichen. 

Patricia Ranft selbst sagt dazu, dass ihr Artikel mittlerweile 'glücklicherweise veraltet' ist. 

Trotzdem beinhaltet dieser Text wertvolle Erkenntnisse und ist sehr relevant für unsere Recherche über autistische Vorbildfiguren durch die Geschichte hinweg, wie auch unser Interesse an Klostern als ursprüngliche Orte für (assistiertes) Zusammenleben- und Arbeiten. 

Enlarge

Vision of the angelic hierarchy - Hildegard von Bingen

Quelle: 

Ranft P. Ruminations on Hildegard of Bingen (1098-1179) and autism. J Med Biogr. 2014 May;22(2):107-15. doi: 10.1177/0967772013479283. Epub 2013 Jul 29. PMID: 24585581.