Adolf Giltsch
Ein Nachruf von Ernst Haeckel.
Am 15. Juni 1911 verschied in Jena nach längerer Krankheit im 60. Lebensjahr Adolf Giltsch, ein Künstler und Naturforscher von ungewöhnlichen Verdiensten. In den weitesten akademischen Kreisen sind die vorzüglichen Abbildungen bekannt und hochgeschätzt, durch welche dieser Meister der Zeichenkunst und Lithographie tausende von Abhandlungen und viele größere Werke aus allen Gebieten der Biologie illustriert hat. Aber nur wenige Leser wissen, wieviel eigene geistige Arbeit der darstellende Künstler in diesen naturgetreuen Bildern mit der originalen Produktion des beobachtenden Naturforschers auf das Engste verknüpft ist. Denn Giltsch begnügte sich nicht damit, die Originalzeichnungen und Photogramme der Autoren (oft höchst mangelhafte Skizzen und arg verzeichnete Figuren) mechanisch auf die Steinplatte zu übertragen und zu vervielfältigen, wie es die meisten Lithographen tun; sondern er wollte vor allem eine genaue Kenntnis und ein gründliches Verständnis des abgebildeten Objektes für sich selbst gewinnen, und darauf gestützt erst die scharfen Konturen und die zweckmäßigste Schattierung der Figuren ausführen. Als ernster Beobachter war er vor allem darauf bedacht, die äußere Gestalt und die innere Struktur des beobachteten Gegenstandes nach allen Richtungen soweit möglich zu ergründen und darauf erst mit allen Hilfsmitteln der modernen Technik seine möglichst vollkommene Wiedergabe auf Papier oder Stein auszuführen.
Das erfolgreiche Gelingen dieser Aufgabe im weitesten Umfange wurde nur dadurch möglich, daß sich in ihm mehrere Talente in seltener Weise vereinigt fanden: vor allem das scharfe Auge und die geschickte sichere Hand des bildenden Künstlers, nicht minder aber das lebendige Interesse und der Erkenntnistrieb des echten Naturforschers; – einerseits genaue Kenntnis und geschickte Benutzung aller technischen Hilfsmittel und Methoden, andererseits volles Verständnis für die vergleichende Forschungsrichtung der modernen Morphologie und für die hohen allgemeinen Ziele unserer heutigen Entwicklungslehre.
Zu diesen vielseitigen Talenten von Adolf Giltsch gesellten sich ausgezeichnete Eigenschaften des Charakters: vor allem unermüdlicher Fleiß und zähe Ausdauer in der anstrengenden Arbeit; volle und selbstlose Hingabe an seine Lebensaufgabe, in der er stets das Höchste zu erreichen bemüht war; bescheidene Einfachheit seiner bürgerlichen Lebensweise und Verzicht auf die zerstreuende Genüsse der modernen Ueberkultur. Seine Mußestunden verbrachte er still in seinem glücklichen Familienkreise, mit Lektüre und Musik beschäftigt.
Zahlreiche und angesehene Naturforscher der Gegenwart und der letzten vierzig Jahre sind Adolf Giltsch für seine Mitarbeit zu größtem Dank verpflichtet, besonders auf allen Gebieten der Biologie, Zoologie und Botanik, Anatomie und Physiologie, Pathologie und Entwicklungslehre. Keiner aber von diesen vielen Kollegen und seiner von ihren zahlreichen Schülern, deren Arbeit der erfahrene Meister illustrierte, stand ihm vier Dezennien hindurch so nahe, wie ich. Somit erfülle ich nur eine Pflicht der Dankbarkeit, wenn ich hier noch kurz auf unsere gemeinsame Arbeit in Jena eingehe.
Als ich mich vor fünfzig Jahren (im März 1861) an der Universität Jena für vergleichende Anatomie – auf Veranlassung meines Freundes Karl Segenbaur – habilitierte, bestand hierselbst noch keine größere lithographische Anstalt. In einer kleinen Druckerei fand ich Eduard Giltsch beschäftigt, den Vater unseres Meisters, der ursprünglich Hausmann im botanischen Garten war; ohne genügende Vorbildung und ohne äußere Hilfsmittel, hatte sich dieser treffliche Mann durch Talent und Fleiß zu einer bescheidenen Stellung emporgearbeitet, die es ihm gestattete, seinen einzigen Sohn Adolf schon frühzeitig (mit 14 Jahren) in seiner kleinen Steindruckerei anzulernen.
Im Jahre 1864 begann unsere Medizinisch-Naturwissenschaftliche Gesellschaft die Herausgabe ihrer Zeitschrift für Naturschasenschaft, von der jetzt bereits 47 Bände erschienen sind. Für die Anfertigung ihrer zahlreichen lithographischen Tafeln wurde Eduard Giltsch und sein Sohn Adolf in erster Linie beschäftigt. Auch übernahmen sie den Druck der phylogenetischen Tafeln und Stammbäume, die ich 1866 (in der generellen Morphologie) begonnen hatte, sowie die Lithographie der Tafeln zu meinen Biologischen Studien und zur Monographie der Kalkschwämme (1872). In ausgedehntem Maße mußte ich jedoch die Hilfe Adolf Giltsch erst für mich in Anspruch nehmen, nachdem ich 1876 die Bearbeitung eines großen Teils der “Challenger Reports” übernommen hatte.
Bekanntlich gilt das kolossale Challenger-Werk (50 dicke Quartbände mit 3000 Tafeln) gegenwärtig als die Grundlage, auf der sich unsere neue Wissenschaft von dem hochinteressanten Leben der Tiefsee aufbaut; dank der unvergleichlichen Liberalität der englischen Regierung. Die Direktoren der “Challenger Reports”, Sir Wyville Thomson und Sir John Murray, übertrugen mir 1876 zunächst die Bearbeitung der Radioloraien (mit 40 Tafeln), und später die Tiefseemedusen (32 Tafeln), die Siphonophoren (50 Tafeln) und die Tiefseehornschwämme (8 Tafeln).
Die zwölf Jahre (von 1877-1889), in denen ich gemeinsam mit Wolf Giltsch an der Erforschung dieser wunderbaren Tiefsee-Schätze und ihrer Darstellung auf 230 Quart-Tafeln beschäftigt war, schenkten uns beiden die schönsten und kostbarsten Lebens-Erinnerungen. Allein schon die Untersuchung des berühmten “Radio-Schlammes” der Tiefsee, und der märchenhaften, auf der Challenger-Reise selbst von Sir John Murray angefertigten Plankton-Präparate von Radiolarien, eröffnete uns eine neue Welt von “Kunstformen der Natur”; die bescherte uns 10 Jahr lang täglich eine neue Fülle von mikroskopischen “Gemüts- und Augenergötzungen”. Ich konnte in den drei dicken Bänden meines “Reports” über 4000 verschiedene Arten von Radiolarien beschreiben – eine Klasse von einzelligen Urtieren, die erst 1858 von meinem großen Lehrer Johannes Müller in Berlin ausgestellt worden war; dieser konnte damals nur 50 Arten unterscheiden, und ich war glücklich, als ich 1862 (in meiner ersten Monographie der Radiolarien) ihnen zirka 100 neue Arten anreihen konnte.
Im ganzen hat Adolf Giltsch im Laufe der 42 Jahre unserer gemeinsamen Arbeiten über 400 Tafeln in Großquart oder Folio-Format für mich gezeichnet und lithographiert; außerdem zahlreiche kleine Tafeln in Dstabformat. Die Ausübung meiner Handzeichnungen, die er vielfach korrigierte und verbesserte, waren überall gleich sorgfältig, geschmackvoll und naturgetreu. Ohne seine unschätzbare Mitarbeit, ohne seine unermüdliche Vertiefung in die große Aufgabe, wäre es mir niemals möglich gewesen, dieses ungeheure Arbeitsmaterial zu bewältigen. Ebenso wäre es ohne ihn ihm nicht gelungen, die 100 Tafeln meiner “Kunstformen der Natur” herzustellen, die viel dazu beigetragen haben, das Interesse und Verständnis der “verborgenen Schönheiten der Natur” in weitere Kreise zu tragen.
Die fabellose Ausführung der Tafeln für das Challenger-Werk, ferner der 80 Tafeln für meine Medusen-Monographie (1879), verschaffte schon vor 30 Jahren unserem Künstler einen so weiten Ruf, daßer mit Aufträgen überhäuft wurde. Auch wurde vielfach die Frage erörtert (und von angesehenen Verlagsbuchhändlern unterstützt), ob Giltsch nicht sein bescheidenes Geschäft erweitern und zu einer großen modernen lithographischen Anstalt umbilden wolle? Vielleicht hätte er damit großen Erfolg gehabt und wäre “ein reicher Mann geworden”. Aber Adolf Giltsch zog es vor, in seinem bescheidenen Hause in der Tenergasse (früher von Friedrich Schiller von 1789-1793 bewohnt) zu bleiben und die Vorzüge eines mittelgroßen Wirkungskreises, bei voller persönlicher Freiheit, sich zu bewahren. Die Freude am “Besitz von Kunst und Wissenschaft” – nach Goethe bekanntlich die “wahre Religion!” – stand ihm höher als die Einrichtung und Verwaltung eines “großen Geschäfts”, in dem oft der höhere Geldgewinn durch die größeren praktischen Mühen und Ärgernisse reichlich aufgewogen wird. Ich persönlich konnte diese kluge Selbstbescheidung nur billigen, wie ich auch den bleiben jungen, tüchtigen und arbeitslustigen Söhnen von Adolf Giltsch, die jetzt sein Erbe antreten, die treue Nachfolge ihren Vaters in jeder Beziehung nur anempfehlen kann.
Während ich diese Gebetzeilen niederschreibe, erhalte ich einen Ausschnitt der “Norddeutschen Allgemeinen Zeitung” vom 18. Juni, folgenden Inhalts: “Der durch seine künstlerischen Zeichnungen als Illustrator und wissenschaftlicher Zeichner in der Gelehrtenwelt weithin bekannte Lithograph Dr. phil. H. c. Adolf Giltsch ist in Jena im Alter von 60 Jahren gestorben.” Ohne zu wissen, aus welcher Quelle diese Notiz kommt, möchte ich fast vermuten, daß die von einem dankbaren Schüler herrührte. Denn Meister Giltsch hat zwar bei Lebzeiten von keiner Fakultät die Würde eines Docotor honoris causa erhalten, die er wohl verdient hätte. Aber er wurde schon seit Jahren von vielen Studenten in Jena, die sich seiner wertvollen Zeichnungen erfreuten, als “Herr Docotor Giltsch” angeredet und verehrt.
Friede seiner Asche!